“Kohlestrom verstopft die Netze” ist die fachfrauliche, ausführlich getwitterte Meinung von Annalena Baerbock, der Parteivorsitzenden der Grünen. Die Bestätigung dieser Ansicht ist unschwer in folgender Graphik erkennbar:
Generell, insbesondere jedoch an den rot markierte Tagen des 12.05., 19.05. und 31.05.2018, ist deutlich zu sehen, dass Wind- und Solarstrom einfach keine Chance hatten, sich gegen den das Stromnetz verstopfenden Kohlestrom durchzusetzen.
Annalena Baerbock hat sich bereits mit der Aussage
An Tagen wie diesen, wo es grau ist, da haben wir natürlich viel weniger erneuerbare Energien. Deswegen haben wir Speicher. Deswegen fungiert das Netz als Speicher. (>>)
als fachkompetent bewiesen.
Die Aussage von Frau Baerbock war eine Reaktion zu Überlegungen, den Einspeisevorrang für Strom aus erneuerbaren Energien abzuschaffen.
Im Folgenden werde ich ernsthaft und vollkommen ironiefrei darstellen, warum Frau Baerbock meines Dafürhaltens komplett falsch liegt (mal wieder).
Kohlestrom verstopft die Netze
Stromerzeugung / Lastarten
Generell gibt es drei Arten der Stromerzeugung:
- Grundlast / Grundlastkraftwerke:
Diese laufen bei relativ gleichmäßiger Stromerzeugung permanent und stellen die Grundversorgung des Strombedarfs sicher. Also den Teil, der sowieso IMMER benötigt wird, da der Stromverbrauch ohnehin zu keiner Zeit unter einen gewissen Wert fällt.
• Hauptsächlich Braunkohle- und Kernkraftwerke / relativ schwer regelbar mit verhältnismäßg langen Reaktionszeiten (technisch bedingt);
• Untergeordnet Wasserkraft- und Biomasse / besser regelbar (Stromerzeugungsbeitrag jedoch gering) - Spitzenlast / Spitzenlastkraftwerke:
Diese schließen die Lücke zwischen Grundlast und dem tatsächlichen Stromverbrauch. Die Lücke nennt sich Residuallast (!!!).
• Steinkohle- und Gaskraftwerke, relativ leicht regelbar mit verhältnismäßg kurzen Reaktionszeiten - Wind- und Solarkraftwerke:
• leicht regelbar, kurze Reaktionszeiten (sofern überhaupt gerade Strom in nennenswerter Größenordnung erzeugt wird)
Nebenstehende Graphik visualisiert für konventionelle Kraftwerke obige Beschreibungen. Man sieht relativ deutlich den vergleichsweise flachen, gleichmäßigen Verlauf der Grundlastversorgung durch Braunkohle- und insbesondere Kernkraftwerken. Demgegenüber stehen die vielen “kleinen Zacken” der Feinsteuerung der Spitzenlast durch Gas- und Steinkohlekraftwerke.
Falsche Betrachtungsweise
Die Aussage von Frau Baerbock ist nicht grundfalsch.
Auf obige, erste Graphik bezogen, kann wenigstens für den 22. Mai 2018 eine “Verstopfung” durch Kohlestrom vermutet werden (grün markiert). Zu vermuten ist weiterhin, dass Solar- und Windenergie an diesem Tag, zumindest partiell, ab- bzw. heruntergeregelt werden mussten, um das Stromnetz nicht zu überlasten.
Ausfallarbeit
Für die Jahre 2015 und 2016 betrug die Ausfallarbeit – also die Strommenge, die hätte erneuerbar produziert werden können, wenn nicht abgeregelt hätte werden müssen – für die Stromerzeugung aus Wind (on- und offshore)- und Solarkraftwerken nach meinen Berechnungen insgesamt 5,7 % (2015) bzw. 4,9 % (2016) (Datenquellen siehe unten). Für 2017 liegen noch nicht alle Werte vor, vorläufig können jedoch ähnliche Größenordnungen erwartet werden.
Wobei die Erforderlichkeit der “Ausfallarbeíten” insbesondere mit dem fehlerhaften bzw. nicht ausreichend stattfindenden Netzausbau in Zusammenhang steht (>>). Die Stromeinspeisung der Kohlekraftwerke ist daher nicht primär als Ursache dafür heranzuziehen, sondern die stümperhafte Herangehensweise der politischen Taktgeber. Man kann das Trinkwasser von einem Stausee auch schlecht mit einem Gartenschlauch zum Verbraucher bringen. Das benötigte Leitungssystem ist VOR Errichtung des Stausees planerisch zu dimensionieren und dann entsprechend auszubauen.
Darüber hinaus sind 5 % bis 6 % Ausfallarbeit bei der Stromerzeugung durch erneuerbare Energien sicherlich nennenswert. Diesen Umstand bzw. diese Werte als “Verstopfung der Netze durch Kohlestrom” zu bezeichnen, halte ich jedoch für unseriös.
Falsch ist meines Erachtens, “Best-Case-Ereignisse”, mit sehr hoher Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, zur Bewertung des Gesamtsystems Stromerzeugung / Stromnetz heranzuziehen.
Die Grundposition der Betrachtungsweise von Frau Baerbock ist falsch.
Best- und Worst-Case-Betrachtungen
Frau Baerbock hat automatisch eine – mglw. im Unterbewusstsein verankerte, ideologisch bedingte(??) – Best-Case-Betrachtung im Kopf.
Sie sieht die “guten”, hohen Werte der Stromerzeugung aus Wind- und Solarenergie, welche zusammen mit der “schlechten” Grundlastversorgung aus (Braun)Kohlestrom – im wahren Wortsinn – zu viel für das Stromnetz sind. Aufgrund der technischen Auslegung relativ schwerfällig regelbaren Grundlastversorgung, müssen bei insgesamt zu hoher Stromproduktion inakzeptabler weise Wind- und Solarstrom heruntergefahren werden, um das Stromnetz nicht zu überlasten.
Ursächlich für den “Verstopfungszustand” ist demzufolge die vorhandene Grundlast. Wäre diese nicht existent oder wesentlich geringer, könnte signifikant mehr Strom aus Wind- und Solaranlagen eingespeist werden.
Für bestimmte Zeiträume und Umstände, mit sehr hoher Stromproduktion aus Wind- und Solarkraftwerken, ist diese Betrachtungsweise per se nachvollziehbar (siehe oben).
Zur Gewährleistung einer j e d e r z e i t sicheren Stromversorgung – nichts anderes ist akzeptabel – ist dies jedoch ein grob fahrlässiger Ansatz.
Hierfür ist zwingend eine Worst-Case-Betrachtung durchzuführen.
Es ist von einem Ausfall – oder zumindest von einer sehr geringen – Erzeugung von Wind- und Solarstrom über mehrere Tage auszugehen. Nebenstehende Graphik zeigt für den Zeitraum Ende November 2017 bis Mitte Januar 2018 (also relativ aktuell), dass dies kein rein theoretischer Ansatz ist.
Innerhalb von nur knapp zwei Monaten gab es drei Phasen über jeweils drei bzw. vier Tage mit minimaler Stromerzeugung aus Wind und Solarenergie.
Es handelt sich dabei nicht um ausgesuchte Einzelfälle. Im Jahr 2017 gab es mehrere verbleichbare Ereignisse (siehe Graphik rechts). Wobei stets zu Beachten ist (!!), dass Phasen mit sehr niedriger – oder stundenweise überhaupt keiner – Stromerzeugung aus Windenergie mit dem nächtlichen Ausfall der Solarstromerzeugung einhergehen.
Sicherstellung der Stromversorgung
Wie kann die Stromversorgung während dieser immer wiederkehrenden Ereignisse von sehr geringer bis nahezu keiner Wind- und Solarstromerzeugung sicher gestellt werden?
- Kraftwerke:
Ist im Sinne Frau Baerbocks und “vergleichbarer Protagonisten” die “verstopfende” Grundlastversorgung erst mal obsolet – was ich im Falle Kernenergie ausdrücklich befürworte -, bleiben nur noch Spitzenlastkraftwerke zur Abdeckung der dann wesentlich größeren Residuallast (Wasserkraft- und Biomasse können vernachlässigt werden, der Beitrag ist zu gering). Da Frau Baerbock Kohlestrom jedoch pauschal (!!) ablehnt und geballte Fachkompetenz gerade am Kohleaustieg bastelt , stehen Steinkohlekraftwerke ebenfalls nicht mehr zur Verfügung.
Bleiben noch Gaskraftwerke:
Die installeirte Leistung aller Gaskraftwerke in Deutschland beträgt derzeit rund 29,5 Gigawatt (s. Bild rechts). Erforderlich wären jedoch mindestens 70 – 80 Gigawatt (dies entspricht in etwa der benötigt Leistung zur Erzeugung des deutschen Stromverbrauchs). Demzufolge ist es unmöglich, ausschließlich mit Gaskraftwerken die notwendige Leistung zu erbringen. - Stromimport:
Ein 70 – 80 Gigawatt Leistung adäquater Stromimport ist nicht darstellbar! Diese Größenordnungen bewältigen nicht mal Frankreichs Kernkraftwerke . - Stromspeicherung:
Auch eine Stromspeicherung in gezeigten Größenordnungen ist m. M. n. nicht realistisch. Entsprechende Ergebnisse habe ich versucht in meinem Beitrag “Stromerzeugung und Speicherung von erneuerbaren Energien” herauszuarbeiten.
In dieser Hinsicht sind für die (wie weit entfernte?) Zukunft wahrscheinlich noch einige Verbesserungen zu erwarten. Ein Pufferspeichersystem, das den gesamten deutschen Stromverbrauch für mehrere Tage bedienen kann, halte ich jedoch für illusorisch. Wird dies wider Erwarten doch irgendwann mal ermöglicht, ist bis dahin – wir reden über Jahrzehnte – unbedingt fachkompetent und realistisch an die Lösung der Probleme heranzugehen. - Strommix:
Die Vorgaben Frau Baerbocks & Co. als umgesetzt unterstellend, käme ein Strommix aus Gaskraftwerken, Stromimport und Stromspeicherung in Frage.
Angenommen alle Gaskraftwerke könnten dem relativ plötzlichen Rückgang der Wind- und Solarstromerzeugung entsprechend schnell auf Volllast hochgefahren werden – was per se schon, milde ausgedrückt, äußerst ambitioniert ist, da sie sich im Ruhezustand befinden, solange Wind- und Solarstrom brummen -, müssten immer noch mindestens 40 – 50 Gigawatt Leistung durch Stromimporte und gespeicherten Strom bereit gestellt werden.
Zur Verdeutlichung der Größenordnung:
Bei vier Tagen Dunkelflaute wären dann überschlägig mindestens 3,8 Terawattstunden an Stromverbrauch zu gewährleisten (40 GW x 4 Tage x 24 Std. / 1.000 ≈ 3,8 TWh; oder siehe auch Graphik oben, Stromerzeugung 2017, “Last” = Verbrauchswerte). Dafür müssten, nur in der BRD, rund 30.000 Stück des weltgrößten Akkus erbaut werden – welche dann außerdem mit entsprechenden, zusätzlichen Kapazitäten aufgeladen werden müssten.
Ich mach es kurz: ohne einen gigantischen Ausbau der Gaskraftwerkskapazitäten (als Vorhaltung(!!) für Wind- und sonnenschwache Tage) ist auch ein Strommix keine Rettung (Am deutschen Energiewende-Wesen muss Europa genesen!).
Wie heißt es so passend? “Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.”
Analog dazu, ist ein “Stromerzeugungssystem” anhand seines “schwächsten Glieds” zu bewerten, zu dimensionieren und entsprechend damit umzugehen.
Was bringt es dem Stahlproduzenten, wenn an 360 Tagen des Jahres alles bestens läuft, und “nur” an fünf Tagen des Jahres die Produktion eingestellt werden muss, weil nachts gerade kein Wind weht.
Frau Baerbock & Co. ziehen – um im Bild zu bleiben – die 360 Tage “eitel Sonnenschein” zur Bewertung heran, die fünf Tage “schwächstes Glied” werden ausgeblendet bzw. mit unrealistischen Lösungsansätzen übertüncht. Eine falsche und darüber hinaus gefährliche Betrachtungsweise.
Fazit
Setzt sich die vermehrt um sich greifende ideologische Verbohrtheit, gepaart mit entsprechender Unwissenheit über die Zusammenhänge – anders kann ich das nicht mehr interpretieren (siehe auch “Kognitive Dissonanz”) – à la “Kohlestrom verstopft die Netze” und der damit einhergehenden pauschalen Ablehnung aller Kohlestromkraftwerke usw. gesellschaftlich und politisch weiter durch, wird es – das prophezeie ich hier und jetzt – bitterböse Einschläge geben.
Blackouts werden Realität!!
Woran dann selbstverständlich nicht der falsche Umgang mit erneuerbaren Energien, respektive konventionellen Kraftwerken, ursächlich sein wird; Schuld wird irgendwas anderes sein. Entsprechende Erklärungen werden vorgelegt und gesellschaftlich akzeptiert. “Kohlestrom verstopft die Netze” ist der passende, aktuelle Beleg dafür.
Abschließend seien euch noch zwei Links ans Herz gelegt:
• Die Problematik mit der Unstetigkeit von Wind- und Solarkraft
• Warum Wind- und Solarkraft so teuer ist
Datenquellen für die Berechnungen des Anteils der Ausfallarbeit im Verhältnis zur Stromerzeugung aus Wind (on- und offshore)- und Solaranlagen für die Jahre 2015 und 2016:
- Quartalsbericht zu Netz- und Systemsicherheitsmaßnahmen Viertes Quartal und Gesamtjahr 2016
Zeitreihen zur Entwicklung der erneuerbaren Energien in Deutschland